TEXTE

Dr. KARIN MÜLLER-KELWING          2015

Harmonie der Farbe  –  Schönheit der Geometrie

 

Clivia Bahrke – Linien

Oberlandesgericht Dresden – Ständehaus, 20. Mai bis 21. August 2015 

„Die Farbe bewohnt den Raum, während die Linie nur durch ihn hindurchreist und ihn zerschneidet. Die Linie streift das Unendliche, die Farbe «ist«. Durch die Farbe empfinde ich eine vollkommene Identifizierung mit dem Raum; ich bin wirklich frei.“

Das hat Yves Klein einst gesagt. 

Ähnliches denkt und fühlt die Dresdner Künstlerin Clivia Bahrke. Dies ist die erste große und umfangreiche Ausstellung ihrer Werke, kleinere Schauen gab es in Dresden vor 2 bzw. 4 Jahren.

Unter dem Eindruck einer Yves Klein-Ausstellung schuf Clivia Bahrke ihr erstes, hier in der Ausstellung präsentes Gemälde – „1995“. Die Bildfläche unterteilt in kräftig leuchtendes Kobaltblau und dunkleres Preußischblau. An der Schnittstelle setzt sie als Trennungslinie reines Schwarz, nach Harmonie strebend auf Ausgleich der Farbwirkung bedacht.

Schon früh wuchs ihr Interesse an Bildender Kunst. Impulsgebend war jene Ausstellung mit Meisterwerken internationaler, moderner Plastik aus dem Wilhelm-Lehmbruck-Museum, die im Winter 1988/89 in Dresden gezeigt wurde, bei der sie quasi über Kunst gestolpert ist.

Beruflich ging Clivia Bahrke zunächst andere Wege – sie war bei zwei Banken als Kreditanalystin tätig. Akribisches Arbeiten, feinstes Abwägen und Rationales Denken waren dabei unabdingbar – Ähnliches findet sich auch in ihrer Kunst. 

Experimentierfreudig und (im positivsten Sinne des Wortes) neugierig, entwickelt sie ihre Arbeiten in der durchgeistigten Auseinandersetzung mit Vorbildern. Sie selbst ist als Künstlerin Autodidaktin.

Sie schwärmt für die amerikanische Malerei der Mitte des 20. Jahrhunderts, für die Meister des Abstrakten Expressionismus und der Konkreten Kunst, wie Ad Reinhardt, Mark Rothko oder Barnett Newman. Besonders hervorzuheben ist ihre Begeisterung für den amerikanischen Minimalisten Donald Judd. Auch mit den Arbeiten der Lokalmatadoren des Konstruktivismus – wie Hermann Glöckner, Horst Bartnig oder Karl Heinz Adler – setzte sie sich auseinander.

Fasziniert von der Abstraktion folgt Clivia Bahrke in ihren Werken dem radikalen Weg der konsequenten Reduktion von Form und Farbe. Hierin spiegelt sich Ihr Interesse an Mathematik und geometrischen Strukturen. Jedoch ist sie jederzeit darauf bedacht, eine Balance herzustellen, eine Ausgewogenheit zu erreichen, dem Betrachter Denkräume zu öffnen.

Der Ausstellungstitel „Linien“ ist nicht ausschließlich im eigentlichen, im zeichnerischen oder grafischen Sinne zu verstehen. Vielmehr geht es Clivia Bahrke um Leitlinien, Denklinien, um Linien, die sich in ihrem bisherigen künstlerischen Schaffen erkennen lassen. Da sind einerseits die Monochromen Bildtafeln – in Acryl auf Leinwand gemalt, andererseits ihre Arbeiten auf Papier, die einen  fein lasierenden Farbauftrag aufweisen.

Seit etwa 2013 entsteht die Gruppe jener Gemälde, die aus der Ferne und nur auf den ersten Blick monochrom wirken, in Grau, Rot und / oder Schwarz. Erst beim längeren Betrachten offenbaren sie ihre Geheimnisse.

Die Künstlerin grundiert ihre Leinwände sehr sorgfältig und in mehreren Schichten. Durch den wiederholten Farbauftrag entsteht eine ebenmäßige, gesättigte Farbfläche, die auch den Rahmen überzieht. Anschließend interveniert sie. Sie stört und unterbricht die Ruhe der gleichmäßigen Oberfläche, indem sie Strukturen aufträgt, die in feinen, den Bildproportionen angepassten Streifen verlaufend die Quadratur der Leinwand im scheinbaren Gleichklang unterteilen. Sie gliedern die Fläche vertikal oder horizontal, selten auch in Form von rechten Winkeln und werden ihrerseits farbig im Ton des Untergrundes gefasst.

Clivia Bahrke setzt die einzelnen Werke dieser monochromen Serie aus mehreren derart behandelten Bildtafeln zusammen und erzielt damit eine Rhythmisierung. Die reduzierten, matten Farben leuchten nicht aus sich heraus, sondern erst durch die Reflektionen und Lichtbrechungen, die sich aus den in sich unregelmäßigen Strukturen ergeben. Die Reduktion in ihren Arbeiten führt bisweilen sogar zum bewussten Verzicht auf Titel.

Dazu im Gegensatz steht der metaphysische Titel „This is no perfect world“, 2014 – jenes Gemälde mit 4 x 4 Quadraten, in 4 Farben: ocker, rot, grau, schwarz, die ihrerseits jeweils 4 Quadrate bilden, die sich durchdringen – Oder sind es 4 Quadrate, die jeweils, wie atomisiert in 4 einzelne Quadrate zerfallen? In der äußerst durchdachten Struktur und dem gleichmäßigen Farbauftrag erreicht dieses Gemälde einen Grad der Perfektion, die der Welt im Titel abgesprochen wird. Da gibt es Unerfreuliches, Tristes, Krieg. Menschen sterben, es fließt Blut. Andererseits gibt es viel Schönes – denken Sie  an einen sonnenlichtdurchfluteten Tag. Das Grau der Welt, des Alltags birgt all diese Farben in sich. Ein jeder von uns, muss für sich selbst einen Weg finden, die Dinge, Ereignisse und Eindrücke, die Farben der Welt, zu ordnen und ins Gleichgewicht zu bringen.

Der Titel ihrer neuesten Arbeit, „Variabilität“, verweist auf die vielfältigen Präsentationsmöglichkeiten der vier Bildtafeln, die erst in der jeweiligen Kombination an der Wand zu einem Kunstwerk fusionieren. Denkbar wäre eine andere Abfolge der Tafeln, sogar als einfache Reihung. Hier im Oberlandesgericht verwandelt ihre komprimierte Präsentation den Ausstellungs- in einen Meditationsraum und wirkt im Sichtzusammenhang mit den beiden flankierenden schwarzen Gemälden beinah wie ein moderner Flügelaltar.

Eine große Signalwirkung wohnt der Serie der starkfarbigen, titellosen Werke aus den Jahren 2001–2004 inne. Ihre extreme Fernwirkung beziehen sie aus der Kombination der Farben Schwarz - Rot und Orange. Nicht nur die Farben wirken durch ihre starken Kontraste als Signale, auch der Bildaufbau lässt die Gemälde zu Zeichen werden. Die strenge geometrische Ordnung der Linien bzw. Farbstreifen wird durch eine Verschiebung, eine Verwerfung unterbrochen und erheblich gestört. Wie von einer unsichtbaren Linie zerteilt, erscheint ein  Teil des Gemäldes wie durch eine Lupe oder ein Prisma gesehen, stark vergrößert. Diese optische Täuschung lässt die Werke gewissermaßen zu „tanzenden“ Bildern werden.

Mit den Gemälden von Clivia Bahrke begegnen uns in dieser Ausstellung Werke, die in ihrer Reduktion geradezu eine Präsentation im „White Cube“, im weißen, leeren Raum verlangen. Hier im Oberlandesgericht haben sie einen solchen, idealen Ort gefunden. Sie treten in einen innigen Dialog mit diesem und verbinden sich mit ihm, ganz im Sinne der eingangs zitierten Worte.

Anders ihre Arbeiten auf Papier – die hier vereinten stammen aus den Jahren 2009–2013. In ihnen lotet die Künstlerin sowohl die Wirkung der Fläche als auch der Farbe aus.

„Vertikal“ verzaubert mit dem lasierenden Farbauftrag der zarten weißen Bänder. Es ist eine der kleinsten Arbeiten der Künstlerin, sehr fein untergliedert in 13 x 13 winzige Felder. Sie entstehen durch die  zarte weiße Übermalung der Grundstruktur aus orangen und schwarzen Linien, die jeweils im rechten Winkel aneinanderstoßen. Zum Rand hin enden die weißen Streifen in kräftigen Konturen. Dadurch entsteht der Eindruck einer Dreidimensionalität, die eine Dominanz der Vertikale ahnen lässt – diese jedoch sofort spielerisch auflöst und zur optischen Wirkung einer diagonal verlaufenden Spiegelung oder Faltung des Blattes verkehrt.

Auch die beiden Arbeiten mit dem Titel „Nine fields“ irritieren. Erst das Einlassen auf das Werk offenbart den Hintersinn.

In „Riss“ wird die fein säuberlich angelegte, geometrische Struktur der Verflechtungen von ockerfarbenen und rot getönten Linien bzw. Bändern jäh unterbrochen, durch einige wenige grau-schwarze Abschnitte im linken oberen Viertel, die sich vom Rand her in Richtung Blattmitte ausbreiten. Durch die ebenmäßige Struktur verläuft ein „Riss“.

Mit feinsten Farbabstufungen wartet „Quadrate endlich“ auf. Im Auge des Betrachters verbinden sich die 5 x 5 Quadrate zu unendlichen Kombinationen – aber nur scheinbar. Wie viele Quadrate es tatsächlich sind, das dürfen Sie später herausfinden. Die Mathematiker unter ihnen werden das bereits ohne zu zählen wissen.

Schließen möchte ich mit Worten der amerikanischen Autorin Siri Hustvedt:

„Gefühl spielt eine wesentliche Rolle beim Erinnern. Gleichgültigkeit ist der schnellste Weg zum Vergessen, und am Ende sind die einzigen Kunstwerke, die zählen, jene, an die wir uns erinnern, und jene, an die wir uns erinnern, sind anscheinend jene, die wir gefühlt haben.“ 

In diesem Sinne wünsche ich der Ausstellung, dass Sie, liebe Kunstfreunde, sich an sie erinnern mögen.